Kurzfassung von: http://www.rrz.uni-hamburg.de/biologie/b_online/d36_1/36_1.htm
erschienen in Ärzte Zeitung 80, Mittwoch d. 03-05-1995
Peter v. Sengbusch, Hamburg
Lohnt es sich noch über Evolutionsforschung zu reden? Trotz vieler Bedenken hat DARWINs 1859 entwickelte Selektions- und Artbildungstheorie nichts an Bedeutung verloren.
DARWINs Einsicht, Variabilität sei eine der Ursachen für die Artentstehung, wurde bei molekularer Betrachtungsweise auf die Frage nach der Entstehung des Lebens extrapoliert. Zahlreiche experimentelle Ansätze machen deutlich, daß wir uns der Antwort auf diese Frage in kleinen Schritten, aber zielstrebig nähern. Nur bedeutet deren Beantwortung nicht automatisch, daß man Biologie und Evolution des Lebens wirklich verstehen würde.
"What ist true for Escherichia coli is true for the elephant", meinte triumphierend der Molekularbiologe J. MONOD in den sechziger Jahren, doch schon wenig später schrieb J. D. WATSON - der zusammen mit F. CRICK das Modell der DNS-Doppelhelix entwickelte - in seinem Lehrbuch "Molecular biology of the gene", es gäbe keine einfache Zelle. Es wurde nämlich trotz zahlreicher molekularbiologischer Befunde immer klarer, daß wir es bei zellulären Prozessen mit komplexen Vorgängen und Strukturen zu tun haben. Der Verhaltensforscher K. LORENZ schrieb einmal, daß die Integration von Einzelkomponenten zwangsläufig zu immer komplexeren Systemen führt, er bezog sich seinerzeit auf die Evolution sozialer Systeme, bei molekularen sieht es aber nicht anders aus.
Zusammenfassend läßt sich demnach sagen, daß die traditionellen Ansätze zur Klärung evolutionsbiologischer Fragen sich mit dem Problem der phylogenetischen Verwandtschaften und der Abstammung der Organismen untereinander und von ihren Vorfahren befaßten. Dieser Ansatz war und blieb auch in der Zeit nach DARWIN erfolgreich, niemand zieht mehr in Zweifel, daß die Evolutionsforschung (und damit auch die Biologie) einen historischen Prozeß beschreibt, der zur Entwicklung von Diversität, einer Fülle neuer Arten und der Einnahme aller nur denkbaren ökologischen Nischen geführt hat.
Als den größten Beitrag zur Biologie im 20. Jahrhundert nannte der Evolutionsforscher E. MAYR die Erkenntnis von der "Einheit der Biologie", womit er zum Ausdruck brachte, daß alles Leben auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen ist und daß alle Lebenserscheinungen als ein Kontinuum anzusehen sind, auch wenn einzelne Strukturen zerfallen und die Lebensspanne eines Individuums begrenzt ist. Einheit steht damit in scheinbarem Gegensatz zur Diversifikation.
In der biologischen Forschung ging man, wie es kürzlich der Zellbiologie P. SITTE ausführte, den Weg vom Komplexen zum Einfachen. Es handelt sich dabei um einen reduktionistischen Ansatz. Die Erfolge blieben nicht aus, die Ergebnisse der Zellbiologie, der Biochemie und der Molekularbiologie wurden auf diese Weise gewonnen, ihre Bedeutung ist unstrittig, auch ihre Anwendung in der Medizin, der Pharmazie und der Landwirtschaft belegt den Erfolg immer wieder aufs Neue.
Greifen wir die oben gemachte Äußerung, daß Evolutionserfolg mit einer Zunahme an Komplexität verknüpft sei, wieder auf, können wir Evolution als einen Prozeß definieren, der vom Einfachen zum Komplexen führte, und um das Phänomen der "Einheit in der Biologie" zu verstehen, können wir uns der System- und der Informationstheorie bedienen.
Die Systemtheorie bietet ein ideales Ordnungs- und Hilfsmittel, um Prozesse in unter- bzw. übergeordneten Hierarchie- oder Organisationsebenen (Systemen, Untersystemen) zu klassifizieren und zu einem Gesamtbild zu integrieren. System-komponenten und -eigenschaften in Teil- oder Untersystemen lassen sich in einer "Black Box" verschließen.
Andererseits zeigte es sich aber auch, daß die Leistungen übergeordneter Systeme vor allem darauf beruhen, daß die Zahl der Komponenten und der Wechselwirkungen in untergeordneten Systemen auf ein Minimum reduziert wurde. Unter zahlreichen denkbaren Alternativen bewährten sich nur die Strukturen und Funktionen, die wir heute in allen Zellen und in allen Organismen nachweisen können. Nur diejenigen hielten dem Selektionsdruck stand, die für das Funktionieren eines Systems und der übergeordneten Systeme essentiell waren.
Somit lassen sich - in grober Vereinfachung - folgende Systeme und Systemeigenschaften skizzieren:
Elemente: 92 natürliche Elemete kommen vor, für lebende Systeme werden vor allem nur der Kohlenstoff und einige weitere, in der Größe dem Kohlenstoffatom ähnliche Elemente benötigt. Die Eigenschaften des Kohlenstoffs sind für alle übergeordneten (biochemischen) Reaktionen essentiell.
Moleküle: alle in Zellen vorkommenden Metaboliten sind kohlenstoffhaltig, die Moleküle oder Ionen sind Bestandteile des primären Stoffwechsels, viele von ihnen sind an Redoxreaktionen und somit am Energiestoffwechsel der Zelle beteiligt. Viele der kohlenstoffhaltigen Moleküle sind zur Ausbildung schwacher Wechselwirkungen befähigt.
Makromoleküle: im Prinzip können zahlreiche kohlenstoffhaltige Moleküle zu Makromolekülen polymerisieren. Für die Evolution der Zelle und zur Aufrechterhaltung ihrer Funktion werden primär Aminosäuren, die zu Proteinen und Nukleotide, die zu Nukleinsäuren polymerisieren, benötigt. Die Ausbildung spezifischer dreidimensionaler Strukturen beruht vornehmlich auf der Bildung von schwachen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Teilen eines Makromoleküls. Selektiert wurde auf die maximal mögliche Zahl solcher Interaktionen
Supramolekulare Komplexe: Zusammenlagerung von Makromolekülen, z.B. Ribosomen, bestehend aus bestimmten Nukleinsäuremolekülen und ganz bestimmten Proteinen. Die Ribosomenzusammensetzung ist im Prinzip bei allen Organismen gleich, graduelle Unterschiede - die die Funktion nicht beeinträchtigen - entstanden (als erlaubte Fehler / Mutationen) im Verlauf der Evolution. Die Zahl supramolekularer Komplexe in allen Zellen ist recht niedrig, ihre Variabilität recht gering.
Zellen: Die Zellen in allen Organismenreichen sind im großen und ganzen gleichartig strukturiert. Sie sind von einer Einheitsmembran umgeben, die sie gegenüber der Umwelt abschirmt, in ihnen laufen gleichartige oder nur leicht modifizierte Stoffwechselprozesse ab, sie enthalten genetische Information, einen Proteinbiosyntheseapparat und Vorrichtungen zur Energiegewinnung, bei Eukaryoten sind daran Mitochondrien, bei Pflanzen zudem die Plastiden beteiligt.
Vielzeller: alle bestehen aus Zellen, die zu Geweben und Organen zusammengefaßt
sind, ihre Funktionen unterliegen der Kontrolle mehr oder weniger effizienter Informationsübertragungssysteme (Nervensystem, Hormonsystem).
Obwohl die Variabilität auf jeder Hierarchiestufe durch Selektion auf ein Minimum reduziert wurde, steigt die Anzahl der Variabilitätsparameter mit jeder Hierarchiestufe. Die Variabilität bei Vielzellern ist daher um ein Vielfaches höher als bei Einzellern. Das erklärt zugleich die Zunahme der Artenzahl mit steigender Evoltionshöhe und das scheinbare Paradoxon zwischen Diversifikation und "Einheit in der Biologie"
.
Die Entwicklung von Komplexität und Integration im Verlauf der Evolution war nur deshalb möglich, weil neben der strukturellen Identität der einzelnen Komponenten ein Informationstransfer entstand. Die genetische Information, niedergelegt in einem Vierbuchstabencode in der Desoxyribonukleinsäure (DNS) sichert die Kontinuität. Dieser Molekültyp verfügt einmal über die Kompetenz zur identischen Reduplikation (Vervielfachung), zum anderen über die einer Matrizenfunktion, die es erlaubt, die genetische Information zur Bildung von Proteinmolekülen zu nutzen. Man hat es hierbei mit einer Instruktion zu tun; die Informationseinheiten (=Gene) gewinnen dadurch einen bestimmten Wert, oder besser gesagt, einen Selektionsvorteil. Ein bestimmtes Gen instruiert die Bildung eines spezifischen Proteinmoleküls, dieses kann ein Enzym sein und damit eine biochemische Reaktion katalysieren. Ein bestimmtes Protein (=Genprodukt) kann aber auch an der Reduplikation von Nukleinsäuremolekülen mitwirken, um die Fehlerrate bei der Vermehrung der genetischen Information zu reduzieren. Dadurch entwickelte sich eine Abhängigkeit von genetischer Information und einem Genprodukt, welches seinerseits die weitgehend korrekte Reduplikation (Vervielfachung) der genetischen Information sicherstellte. Es entstand damit zwangsläufig ein Prozeß, der von dem Göttinger Biophysiker Manfred EIGEN zu Beginn der siebziger Jahre erkannt und als Hyperzyklus identifiziert wurde. Ein Hyperzyklus (ein Zusammenschluß von reduplikationsfähigen informationstragenden Einheiten und Proteinen mit katalytischen Eigenschaften) stellt die Basis und den Anfang aller lebenden Systeme dar. Er verfügt über Stabilität (kann somit Fehler, bzw. Mutationen kompensieren und bei Vorhandensein überschüssiger genetischer Information diese zur Voraussetzung einer Evolution machen), er kann und muß sich vermehren, denn die Lebensdauer der einzelnen molekularen Komponenten ist begrenzt, lediglich ihre kooperativ eingesetzten Eigenschaften gewährleisten eine Kontinuität. Dafür werden allerdings unentwegt Material (kleine Moleküle) und Energie benötigt. Das führte zu einem Bedarf auch solche Informationseinheiten zu entwickeln, die diesen Bedürfnissen gerecht werden und Strukturen instruieren, welche ihrerseits in der Lage waren, Energie in biologisch aktive Formen zu transformieren.
Leben ist auf Wachstum und Vermehrung angewiesen. Menschliche Gesellschaften auch, die Probleme sind geblieben: materielle und energetische Ressourcen waren schon immer knapp und daran wird sich wohl kaum etwas ändern. Hemmung bzw. Repression von Aktivitäten und potentiellen Leistungen sowie eine Regulation von Vorgängen sind die einzig realistischen Gegenmaßnahmen. In keiner Zelle dürfen alle Gene ihre Aktivität voll entfalten, die Folge ist am anschaulichsten an der geregelten Entwicklung eines Vielzellers zu sehen: Die Differenzierung zu den unterschiedlichen Zelltypen beruht auf einer zeitlichen und räumlichen Koordination einzelner Genaktivitäten. Entzieht sich eine Zelle einer solchen Kontrolle und vermehrt sich ungeregelt weiter, entsteht ein Tumor, an dem der Gesamtorganismus über kurz oder lang zugrundegehen kann.
Im Verlauf der Evolution der Organismen wurde unverhältnismäßig viel genetische Information akkumuliert. Bei keiner Art werden alle vorhandenen Gene für einen normalen Lebenszyklus benötigt. Diese scheinbar überschüssigen Gene bilden ein Evolutionspotential, das genutzt werden kann, wenn sich ein Bedarf ergibt (Veränderungen der Lebensbedingungen, veränderte Umwelt, veränderter Selektionsdruck). "Fortschritt", also die Weiterentwicklung und Anpassung an veränderte Lebensumstände ist demnach in der Regel nicht die unmittelbare Folge von zufällig auftretenden Mutationen, sondern vielmehr eine Aktivierung (oder Reaktivierung) von vorhandenen Genen. Evolution ist ein opportunistisches Prinzip, es beruht nicht auf der Annahme, durch Fehler (Mutationen) könne etwas Besseres entstehen, sondern vornehmlich auf effizienter Nutzung vorhandener Ressourcen (Rückgriff auf vorhandene Informationseinheiten).
Woher wissen wir das? Einen gewaltigen Fortschritt in der Evolutionsbiologie brachten Erkenntnisse, die mit Hilfe der Gentechnik gewonnen wurden. Nicht der moderne Wissenschaftler ist Entdecker und Nutzer von Methoden, mit deren Hilfe er die Natur manipulieren könne. Die Natur tut es selbst, Evolution beruht zum überwiegenden Teil auf Umstrukturierung genetischer Informationseinheiten, so wie wir sie als Gentechnik erkannt haben, nutzen - oder verteufeln. Wieder ein schönes Beispiel für Leben und negative Rückkopplung: die menschliche Gesellschaft, der "gesunde Menschenverstand" möchte nicht, daß Einzelne etwas tun, was die Übrigen nicht verstehen.