. . . Wie lieb bist Du heut wieder, daß Du in Deinem Brief, meine Änni, auf meine Fehler und Schwächen eingehst und sie durch Deinen liebevollen ermunternden Zuspruch zu mindern und zu verscheuchen suchst. Leider tut das wieder recht not, denn wieder ist eine Woche vergangen, in der ich trotz hartnäckig fortgesetzter Arbeit fasts nichts zustande gebracht habe. Ja, der Kleinmut und die Hoffnungslosigkeit waren in der letzten Zeit so gewachsen, daß ich fast ganz die Hände hätte sinken lassen und wieder trostlosem Weltschmerz mich hingegeben. Da kommen denn die ermutigenden Worte aus Deiner munteren, frischen Seele grad zurecht, um die ermattenden Gedanken wieder zu stärken und die nachlassenden Hände zu neuer, frischer Tätigkeit anzuspornen. Im ganzen beurteilst Du die Gründe und Ursachen meiner Mutlosigkeit ganz richtig, wie ich dies auch selbst erkenne, ohne doch ernstlich dagegen aufkommen zu können. Selten hat es doch gewiß einen Menschen gegeben, in dem Wollen und Können in so schlechtem Verhältnis standen wie bei mir. Ich will das Gute aus aller Kraft meiner Seele; klar sehe ich das Ziel vor mir liegen, dem ich nachstreben möchte - und doch glaube ich fast, daß jeder Schritt dazu mich eher davon entfernt als nähert. Hätte ich doch lieber nie dieses höhere Ziel erkannt, wäre es mir lieber ganz dunkel geblieben und irrte ich lieber blind in der Finsternis umher, wie der größte Teil der übrigen Menschen, als daß ich es jetzt klar und scharf vor mir sehe, mit der Gewißheit, es nie zu erreichen, mit der Unmöglichkeit, mich ihm auch nur wesentlich zu nähern. Je mehr ich hierin mich selbst zu erkennen, meinen Kräften die angemessene Richtung zu geben trachte, desto weniger komme ich darüber ins klare, desto weniger scheinen mir die disponiblen Kräfte dem erhabenen Ziel angemessen. "Zwei Seelen wohnen, auch, in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen!" Welch schrecklicher Dualismus zwischen dem Ideal, zu dem unsere strebende Seele sich zu erheben fähig ist, und der trostlosen, vernichtenden Wirklichkeit, in deren Staub wir zu kriechen verdammt sind.
Ich weiß, Du verstehst mich, liebster Schatz, wenn ich mich auch falsch und plump ausdrücke, fehlt mir ja doch die Form überall. Auch dies ist ein großer Fehler von mir, auf den ich mir aber eher etwas einbilde, als daß ich ihn bedaure. Ich muß es ier jetzt oft von den näherstehenden Bekannten (wie schon früher so oft als Student) hören: "Wie schade um den netten, jungen Menschen; wenn er doch etwas auf sich hielte, wenn er doch sein Äußeres, seine Form kultivierte, wenn er doch etwas repräsentierte!" Wenn ich so etwas höre, so höre ich auch immer etwas von mephistophelischem Hohngelächter in meiner Seele, ja, dann fange ich an, mich etwas zu fühlen; denn dann verstehe ich wohl und fühle es tief, daß ich in meinem Innern etwas besitze, eine Fülle und tiefe gemischter Ideen, von denen eben die hohlen Alltagsköpfe sich nichts träumen lassen, und in diesem Reichtum könnte ich mich, indem ich ihn mit Dir teile, die Du ihn würdigst und verstehst, ich könnte mich darin glücklich fühlen und zur Zufriedenheit zu gelangen hoffen, wenn da nicht schon im Huntergrund wieder der rastlose Dämon lauerte, der mich nie ruhen ließe und immer mit gieriger, wilder Hast nach dem Ziel der Wahrheit weiter triebe.
Einen Trost gibt es da freilich noch, aber einen schlechten, es ist der, daß alle Geister, die mit aufrichtigem Streben in die Natur der Dinge einzudringen trachteten, diesem bösen Geist zum Opfer fielen, daß niemals die entschleierte Wahrheit ihren heißen Drang befriedigte. Da schwebt mir immer das Bild meines erhabensten Lehrers und Meisters, Johannes Müller, vor. Hat ihn nicht dieser tiefe Zwiespalt der Seele, dieser unselige Dualismus zwischen Wollen und Können, Ziel und Kraft, Ahnen und Erkennen, dieses ewig unbefriedigte und doch ewig brennende Feuer der Sehnsucht nach dem Bild der Wahrheit, hat dieses ihm nicht die düsteren Falten der Schwermut in die göttliche Jupiterstirn gegraben, die kein, auch nicht der reinste Lebensgenuß, keine Freude, auch nicht die größte, die des Schaffens und Erkennens, ganz zu glätten und zur Befriedigung zu kehren vermochte!? Gewiß, ich könnte mich mit diesen und allen andern Geistern trösten, die im beständigen Streben nach dem Schauen der göttlichen Wahrheit doch nie dazu gelangt sind; ich könnte eben in diesem Streben meine Befriedigung finden, wenn nur meine Leistungen innerhalb dieser nun einmal unübersteiglichen Grenzen einigermaßen befriedigend wären und nicht allzusehr mit dem guten Willen im Mußverhältnis stünden! . . .
Der Hauptgrund dieses trostlosen Kleinmutes liegt aber darin, daß die faktische Leistung so sehr weit hinter diesem Streben zurückbleibt. Zwei Monate sitze ich nun schon hier, und was habe ich trotz der dauernden angestrengten Arbeit zustande gebracht, trotz der Selbstüberwindung, mit der ich hier im Garten Europas, wo die reizende Natur zum vollen, hingebenden Genuß einladet, mich streng an mein Spezialstudium gefesselt habe, trotz der Geduld, mit der ich so vieles, vieles ganz umsonst getan und verfolgt habe? Nichts, was der Rede wert ist. Meine Freunde machten es mir immer zum Vorwurf, daß ich mich zu sehr zersplitterte, daß ich im Streben, das Naturganze zu erfassen, zu sehr über das Einzelne, das doch erst die Steine zum Aufbau des Ganzen lieferte, hinwegspringe. Dieser Vorwurf war gerechtfertigt, und ich habe mich deshalb in diesen zwei Monaten möglichst konzentriert, habe die lockenden Versuchungen, welche mir die lachende, reizende und überreiche Flora und Fauna des Meeres und Landes bereiteten, überwunden und mich streng an ein Einzelstudium gefesselt. Aber wie wenig bin ich dafür belohnt, oder vielmehr, wie sehr habe ich da wieder zu viel gehofft! Ich nahm ein Thema, was bisher so gut wie unbekannt war und das große Ausbeute versprach, die feinere mikroskopische Anatomie der Echinodermen, die allerdings nach Johannes Müllers eigenem Ausspruch, dessen Lieblingsfeld sie war, zu den schwierigsten Gegenständen gehört. Ich habe mit allen Vorkenntnissen und Hilfsmitteln, die der jetzige Stand der Wissenschaft für diesen Gegenstand bietet, ihn angegriffen, mit aller mir möglichen Ausdauer ihn verfolgt, aber was habe ich wesentlich damit erreicht? Ich weiß nun, warum man bisher noch nichts davon wußte, ich habe einen Blick getan in die überreiche Quelle von Irrtümern, die hier überall dem Beobachter geöffnet ist. Allerdings glaube ich einiges Neue, ja, recht Merkwürdige gefunden zu haben, aber dies ist wieder so abweichend von dem Bekannten, daß ich meinen eigenen Beobachtungen nicht traue und schon mehr als einmal im Begriff war, die ganze Arbeit ins Feuer zu werden. Je tiefer man in diese tiefsten Naturgeheimnisse eindringt, deren Wesen bisher noch kein Sterblicher entschleiert hat, desto tiefer überzeugt man sich von der Unzuglänglichkeit des Geistes, sie ganz zu fassen, ja, schon von der Schwäche der nötigsten Hilfsmittel, sich ihnen zu nähern. Zuletzt wagt man kaum noch, die gesehenen Bilder zu deuten und auszulegen, so fein, so verwickelt, so in seinem letzten und feinsten Gründen unfaßbar wird alles . . .
"Ja, wer noch hoffen mag, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!" Man möchte zuletzt dazu kommen, gar keine bestimmten Aussprüche mehr zu wagen, so unendlich groß ist überall die Möglichkeit tiefen Irrtums, wo wir selbst über die einfachste Tatsache uns auf das Zeugnis unserer Sinne verlassen zu dürfen glauben. Ja, ich möchte dabei fast den Mut verlieren, überhaupt Naturforscher zu sein! Und da soll der Glauben dann aushelfen! Du weißt, wie ich zum Glauben stehe, liebstes Herz, und schreibst gewiß nicht mit Unrecht dem Mangel desselben einen großen Teil dieser Unbefriedigung, dieses trostlosen Zweifels zu. Aber wenn ich auch noch zehnmal unglücklicher dadurch würde, ich könnte mich doch nimmermehr zur Annahme eines willkürlichen Dogma entschließen. Gewiß was das frühere Stadium, wo ich mit voller und kindlicher Überzeugung dem christlichen Glauben anhing, ein unbedingt viel glücklicheres! Aber soll man deshalb auf Erkenntnis der Wahrheit verzichten, weil sie unglücklich macht? Nimmermehr! Man denke nur an das verschleierte Bild von Saïs! Ich würde in jedem Falle den Schleier lüften, auch wenn ich mein trauriges Schicksal voraus wüßte. Die Früchte vom Baume der Erkenntnis sind es immer wert, daß man um ihretwillen das Paradies verliert! Also nur immer fortgefahren und mit eiserner Konsequenz an die letzten Pforten der Erkenntnis vorgedrungen!
Du siehst, liebster Schatz, ich kann Dir keine Wahrheit verbergen, mag sie auch noch so hart und bitter klingen. Du kennst mich einmal und weißt, daß Du mich ganz und ungeteilt besitzest und so nehmen mußt, wie die Notwendigkeit der Verhältnisse mich schafft. Ich habe Dich ja ebendarum auch so unendlich lieb und will Dir von Deinen Überzeugungen und Ideen auch nicht das geringste nehmen! Vielleicht wirst Du durch die großen Mängel, die Du ja mit mir bekömmst, einigermaßen durch einige andere Seiten meiner Person entschädigt, auf die ich jetzt bei öfterer Selbstbetrachtung und Vergleichung mit andern aufmerksamer geworden bin, als ich es früher war. Es ist das die strenge Sittlichkeit im praktischen Leben, auf die eigentlich insofern kein Gewicht gelegt werden sollte, als sie sich von selbst verstehen sollte. Leider habe ich aber bei dem ungleich weiteren Gesichtskreis, den mir diese Reise öffnete, gesehen, daß in der sogenannten feinen, gebildeten Gesellschaft ehere das Gegenteil als selbstverständlich betrachtet wird. Da kann ich denn meinen trefflichen Eltern nicht dankbar genug sein, daß sie von Kind auf an mich mit so eiserner Strenge im Punkte der Moral mich rein und unbefleckt zu erhalten gesucht haben, daß wenigstens in diesem einen Punkte mein ganzes Leben eine feste Richtschnur hat . . .