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Italienfahrt - Ernst Haeckel

Messina, 16. 2. 1860

Brief Nr. 65

. . . Der glücklichste Tag - wahrscheinlich in wissenschaftlicher Beziehung der glücklichste für mein ganzes Leben - war der 10. Februar, wo ich, als ich früh wie gewöhnlich mit dem feinen Netz auf den Fang ausfuhr, nicht weniger als 12 (zwölf!!) neue Arten erbeutete und darunter die allerreizendsten Tierchen! Ein Glücksfang, der mich halb unsinnig for Freude machte; ich fiel vor meinem vor Mikroskop auf die Kniee und jubelte dem blauen Meere und den gütigen Meeresgöttern, den zarten Nereiden, die mir immer so herrliche Geschenke schicken, innigsten Dank zu, versprach auch, recht gut und brav zu sein und, dieses Glückes würdig, all mein Leben dem Dienst der herrlichen Natur, der Wahrheit und Freiheit zu widmen. Dieser eine überaus glückliche Fang gab mir bisher vollauf zu tun, und ich bin mit Beschreibung und Zeichnung der herrlichen Wesen noch lange nicht fertig. Gestern früh fuhr ich auch wieder aus, um mir mein Geburtstagsgeschenk zu holen; doch schienen der alte Neptun sowohl als die aufmersamen Nereiden, die dem rüstigen deutschen Jungen offenbar sehr gut sind, seinen Geburtstag gänzlich zu ignorieren; denn ich untersuchte den ganzen Tag viele hundert Wassertropfen ganz vergebens. Mißmutig wollte ich endlich am Abend die Mikroskope einsperren und dachte: "ein schlechter Schluß des reichen Lebensjahres! Nun aber noch ein Tropfen versucht!" Und was sah ich! Kaum traute ich meinen Augen, ein so überaus herrliches Haliomma schwamm zwischen andern unnützen Infusorien herum, eine neue Art, schöner als alle andern! "Und nun noch einen letzten Tropfen!" Da mußte ich vor Freude aufjubeln und in die Höhe springen: denn zwei neue, prächtige Arten, dazu das eine sogar eine neue Gattung, erfreuten den überraschten Blick. Das war denn doch noch ein Geburtstagsgeschenk. Und was für eins!! Damit sind nun 75! neue Radiolarienarten entdeckt und ich hoffe fest, wenn ich nur noch ein paarmal solch Glück habe, binnen kurzem die 100 voll zu machen. Ach Schätzchen, könntī ich Dich nur einmal die Seligkeit mitempfinden lassen, die mich bei solchen prächtigen Freuden im Momente der Entdeckung beseelt, dieser laute, helle Jubel des beglückten Naturforscherherzens, der sich kaum mit etwas anderem vergleichen läßt. Ich kenne nur eine einzige, überselige Empfindung, die noch darüber geht, und das ist der Fund, den ich am 3. Mai 1858 gemacht habe und der denn doch dies alles aufwiegt!! Kennst Du den auch? . . .

Vorigen Sonntag wurde hier Messinas größtes Kirchenfest gefeiert, nämlich die Erinnerungsfeier des furchtbaren Erdbebens, welches 1783 fast die ganze Stadt zerstörte und dessen Spuren noch überall sichtbar sind. Dabei wird denn auch der Brief gezeigt, den die heilige Jungfrau den Messinesen geschrieben hat und worin sie sie ihres besonderen Schutzes versichert. Ich hatte zufällig Gelegenheit, diese für Kultur- und Sittengeschichte wirklich interessante Komödie mit anzusehen. Ich hatte Sonntag früh eine Visite bei dem hiesigen Professor der Zoologie, Herrn Benoit, gemacht, einem ebenso gutmütigen und bescheidenen als unbedeutenden und kenntnisarmen Manne; als ich auf dem Rückweg den Domplatz passierte, fand ich die großen Flügeltüren weit geöffnet und das Innere des mächtigen Baues prächtig erleuchtet und geschmückt und mit einer Menschenmasse vollgepfropft, die bis auf die Straße hinausreichte. Ich arbeitete mich durch sie hindurch und gelangte durch ein Seitenpförtchen zu einem sehr guten Platz nahe dem Chor, von wo ich mich bald so weit durchdrängte, daß ich das ganze Possenspiel bequem überschauen konnte. Ich glaubte mich in die Mitte des vorigen Jahrhunderts oder noch weiter zurückversetzt. Das hohe Chor war vom übrigen dicht gefüllten Schiff der alten prächtigen (leider durch Zopf und sehr plumpe Reparaturen ganz entstellten) Basilika durch ein Spalier von Hellebardieren in fast mittelalterlichem Kostüm getrennt. Aber im Chor waren auf beiden Seiten erhöhter Thronsessel errichtet; auf der einen Seite für die weltliche, auf der andern für die geistliche Obrigkeit. Dort saßen im Kostüm alter deutscher Ratsherren die Väter der Stadt, an ihrer Spitze der Gouverneur (Intendente); alle in weiten, violetten, goldverbrämten Talaren, mit mächtigen radförmigen, weißen, gefalteten Halskragen und ebensolchen Achselriegen; hier auf einem erhöhten Thron der Bischof im prunkenden Ornat und zu seinen Füßen ein Dutzend anderer, wie Handwürste zugeputzter Pfaffen, alle nach den Rangstufen geordnet. Ganz hinten, neben dem Hochaltar, thronte in einem prächtigen Goldsessel der Dalai-Lama, der Erzbischof, dessen greise, gebückte Gestalt Ehrfurcht hatte einflößen können, wenn diese nicht durch den Gedanken, daß er das Zentrum all dieses unwürdigen Schwindels sei, sich in Abscheu verwandelt hätte. Ich kam grade hin, als die Zeremonie eben angefangen hatte und sah ihr noch fast 2 Stunden zu. Ich habe zwar schon in Rom und Neapel starke Stücke von der ekelhaften Theaterposse gesehen, die sich als alleinseligmachende Religion gebärdet; indes, wie so vieles andere, erreicht auch dies, je mehr man noch Süden kommt, seinen Höhepunkt, und in Sizilien scheint deshalb vieles seine höchste Ausbildung zu erreichen, weil es überall öffentlicher, roher, plumper, gemeiner zutage tritt, so daß es auch dem weniger frei Fühlenden sogleich in dei Augen springt. So übertraf denn auch dieser Fetischdienst alles, was ich bisher davon Ähnliches gesehen hatte. Das einzelne des unsinnigen, widerwärtigen Zeremoniells anzuführen, würde Euch zu sehr langweilen und anwidern; ich kann Euch nur versichern, daß ich mich immer fragte, "ist denn so etwas im 19. Jahrhundert in Europa noch möglich?" Jedenfalls kann es zu Luthers Zeiten kaum ärger gewesen sein. Unter anderem nur eines. Der Bischof wurde von den Unterbonzen Stück für Stück auf seinem Thron entkleidet, bis er zuletzt in einem großen, goldgestickten, weißen Chorhemd dastand. Dann wurde ihm vom Hochaltar, durch des Erzbischofs Segen geweiht, eine andere prächtige Kleidung gebracht, davon einzelne Stücke alle von den einzelnen Pfaffen und zuletzt von ihm selbst abgeküßt wurden. Dazwischen fiedelte die rauschende Musik von oben die lustigsten Tanz- und Opernmelodien und ein paar jüngere Bonzen krächzten mit heiserer Stimme von verschiedenen Kanzeln lateinische Gesänge herab. Eine andere Partie der Pfaffen spielte indessen auf ihren Thronsitzen eine so lächerliche Komödie, daß selbst die hochweisen Majestäten sich des Lachens kaum enthalten konnten. Und dazu nun diese wiederwärtigen Pfaffengesichter, auf denen in ekelhafter Mischung Dünkel, Heuchelei, Unwissenheit, gemeine Sinnlichkeit und Genußsucht aufs unzweideutigste sich kundgaben und die durch liederliches Leben meist ihre Gesundheit ruiniert haben.

Ich suche solche Possen immer möglichst objektiv vom philosophisch-historischen Standpunkt aus zu betrachten; diesmal war der Schwindel aber so toll, daß mir doch mein ehrliches Naturforscherblut in allen Adern kochte und ich was darum gegeben hätte, hätte ich hinaufspringen und die elenden Schurken mit geballter Faust auseinandertreiben können. Den Höhepunkt erreichte der Unsinn um 12 Uhr mittags, wo unter des Dalai-Lama Segen der sogenannte Brief der heiligen Jungfrau gezeigt wird, alle Glocken geläutet, alle Kanonen gelöst werden und die gesamte gläubige Christenheit geraume Zeit auf dem Boden liegenbleibt und sich absegnen läßt. Ich stand jetzt vor dem hohen Chor so eingepreßt, daß ich nicht mehr hinaus konnte, und blieb nun, als alles wie mit einem Schlage sich kreuzigend zu Boden sank, fest und starr allein wie ein Baum stehen, zum Glück nicht ganz allein, denn hinten im Mittelschiff sah ich an einen Pfeiler gelehnt einen alten englischen Marinaoffizier von der gestern erst angekommenen Fregatte, der seinen freien Nacken auch nicht diesem elenden Gaukelspiel beugen wollte. Ich muß gestehen, daß mit mein Herz mächtig schlug, und als sich alles wieder erhoben hatte, war es wohl gute Zeit, den Ausweg zu suchen; denn ich hörte wohl, wie das Gemurmel: "Hinaus mit dem Engländer, werft den Ketzer hinaus!" ringsum sich erhob, und an drohenden Mienen fehlte es auch nicht. Glücklicherweise sind die Sizilianer, wenn auch noch so fanatisch und mit grimmigen Worten prahlend, wenn es zum Handeln kommt (falls es nicht hinterlistig geschehen kann), sehr feig und wagen namentlich einen Engländer (wofür ich hier gewöhnlich gehalten werde) nicht anzurühren. Ich bahnte mir also mit Hilfe meines Hammerstockes, dessen erhobener Griff immer einen ganz gewaltigen moralischen Effekt hervorbringt, glücklich durch die drängende Masse einen Ausweg. Aber erst glücklich draußen angelangt, atmete ich wieder frei auf. Ich eilte an meinen herrlichen freien Meeresstrand, wo ich der heiligen, hehren Natur meinen alten Schwur erneuerte, mein ganzes Leben in ihrem Dienste und ihrer Erforschung zum Kampf gegen diesen sogenannten christlichen Kultus, gegen diese schnöde Verhöhnung der edlen Vernunft, daranzusetzen.

Das non plus ultra allerchristlichsten Unsinns findet hier in Messina übrigens am 15. August statt, wo ein anderes großes Marienfest, die sogenannte Vaga, gefeiert wird. Da wird von einem Ende der Stadt zum andern, bis zum Dom hin, von vielen hundert Menschen, an Stricken, auf Schlittenkufen ruhend, ein ungeheures turmähnliches Gerüst geschleift, welches bis in den zweiten Stock der Häuser reicht und an dessen Balken gegen 50 kleine Kinder, frei in der Luft schwebend, angebunden hängen. Die Hälfte derselben stirbt gewöhnlich infolge dieses Martyriums, viele unmittelbar nach der Prozession; diese werden dann beneidet und von allen selig gepriesen, da sie nach dem allgemeinen Volksglauben einen der ersten Plätze im Himmel erhalten. Namentlich gilt dies von dem kleinen Mädchen, das auf der Spitze des Turmes steht und die heilige Jungfrau selbst vorstellt. Dies geht fast immer dabei zugrunde. Aber alle Eltern wetteifern, für ihre Kleinen dieses höchsten Ehrenplatz zu erlangen. Als ich diese Geschichte zum erstenmal erzählen hörte und eine Abbildung davon sah, hielt ich alles für Erfindung oder mindestens Übertreibung. Allein jetzt haben mir alle Deutschen, die die Sache selbst jedes Jahr mit ansehen, ganz dasselbe mitgeteilt, und die Sache hat ihre vollkommene Richtigkeit! O 19. Jahrhundert! Zeitalter der Naturwissenschaft!! Was würde ein alter Grieche zu diesen unwürdigen, widerwärtigen Götzendienern sagen, die sich so hoch erhaben dünken! Wie schön erschien mir dagegen der poetische Polytheismus der Alten! Wieviel menschlicher, schöner, edler war die hellenische Mythologie! -

Indes wenn auch mein Naturforschersinn in wildem Grimme sich gegen diese Herabwürdigung der menschlichen Vernunft bäumt, so gibt sie ihm zugleich doch auf dern andern Seite Veranlassung, nur um so eifriger und getreuer meinem hohen Ziel mit allen Kräften nachzustreben, auch mein Scherflein zum Ausbau der hohen Naturwissenschaft beizutragen, durch welche allein Aufklärung und Bildung und damit Wohlstand und Freiheit, die höchsten Güter der Menschheit, erreicht werden . . .


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Diese Seite wurde erstellt am 9. August 1999