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Italienfahrt - Ernst Haeckel

Paris, 20. 4. 1860

Brief Nr. 72

. . . Ich wollte Dir eigentlich schon in diesem Briefe den Tag der Ankunft bestimmt melden, habe ihn aber in dem Trubel der letzten Tage noch nicht festsetzen können. Die Masse des neuen Großen und Schönen ist hier so groß und überwältigend, daß man einige Zeit braucht, um sich nur erst in dem Übermaß der hier aufgehäuften Naturmerkwürdigkeiten und Kunstschätze zurechtzufinden. Vor allem gilt dies von den naturhistorischen Sammlungen des Louvre und ganz besonders von der Gemäldegalerie im Schloß von Versailles, dem großartigsten der Art, was in der Welt existiert. Denke Dir ein Schloß wenigstens dreimal, vielleicht auch 4-5mal so groß als das Berliner und dies in allen Räumen, allen Etagen von oben bis unten dicht mit historischen Bilder gefüllt, die ganzen Wände Bild an Bild behängt - und Dir wirst Dir wenigstens von dem Umfang dieser Sammlung, die ausschließlich eine vollständige Geschichte Frankreichs in Bildern von der ältesten bis auf die neueste Zeit enthält, einen ungefähren Begriff machen können. Natürlich ist unter deser Unmasse viel schlechtes Zeug, aber auch eine ganze lange Reihe der schönsten und größten Kunstwerke ersten Ranges, vo rallem die wundervollen Bilder von Horace Vernet, die alles andere, was ich bisher von historischen Gemälden gesehen, weit übertreffen, selbst Kaulbach. Dieser unvergleichliche Schatz wird also noch einige Tage in Anspruch nehmen, ebenso die herrlichen Gemälde, Statuen und ethnographischen Sammlungen im Louvre und endlich die prächtigen, lebenden und toten Tiere und Pflanzen im Jardin des plantes. Mein spätester Abreisetermin würde Freitag, 27., sein und ich also spätestens Montag, 30. 4. in Berlin eintreffen . . .

Trotz alles ungemütlichen Treibens, trotz fieberhafter Aufregung, trotz der beständigen, unbefriedigten Unruhe, in der mich die innigste Sehnsucht nach meiner liebsten, besten Seele erhält - trotz alledem möchte ich diesen kurzen Pariser Aufenthalt als Schlußstein der schönen Reise nicht missen. Das Gebiet meiner Weltanschauung ist doch dadurch wieder um eine große Provinz bereichert und der Kreis der Ideen um eine Reihe großartiger Bilder vermehrt worden. Der Zuwachs, den meine allgemeine Ausbildung in dieser kurzen Zeit durch die Aufnahme so vieler neuer Anschauungen und die bedeutende Erweiterung meines Gesichtskreises erhalten hat, ist so groß, als ich ihn hier nicht mehr erwartet hatte, und wird mir in der Heimat, wenn ich all die reichen, gesammelten Erfahrungen erst in Ruhe verarbeiten kann, erst recht klar und deutlich werden. Besonders gilt dies von dem französischen Volke, von welchem ich jetzt erst überhaupt eine Idee bekommen habe, da ich vorher so gut wie nichts davon kannte. Daß Frankreich nach Italien hinsichtlich der Bildung, Reife und Kultur des Volkes nur einen sehr günstigen Eindruck machen muß, ist natürlich. Aber auch im Vergleich mit unsern Deutschen habe ich vieles hier gefunden, was uns leider gänzlich abgeht und worin wir uns die Franzosen nur zum Muster nehmen können. Das ist vor allem der große, nationale Sinn, die gewaltige, kraftvolle Zentralisation, die überall im Wesen und Treiben des Volkes wie der Regierung hervortritt, dann die große Liberalitätt, mit der hier dem Geringsten wie dem Höchsten alle öffentlichen Bildungsmittel, Sammlungen, Bibliotheken usw. zur Disposition gestellt sind . . .

Wohin man in Paris kömmt, überall tritt dies kräftige, nationale Leben, dieser ausgebildete Gemeinsinn, in sehr ansprechender Weise hervor und muß besonders dem Deutschen auffallen, in dessen Vaterland die Engherzigkeit und der niedrige Egoismus der Regierungen grade das entgegengesetzte Resultat zu erzielen bestrebt sind. In der Tat, wenn mein deutscher Patriotismus in Italien erst eigentlich geboren oder mir wenigstens zum Bewußtsein gekommen ist, so erhält er hier in Frankreich erst recht den Schwung des kräftigen Strebens, und ich glühe für den Gedanken, einst auch unsere Nation im Besitz des großen Gutes zu sehen, das die Franzosen in ihrer kräftigen und liberalen Zentralisation bereits besitzen. Lebhafter als je fühle ich den innigen Wunsch, mit an dem Werk der Befreiung unseres deutschen Volkes zu arbeiten, der Loslösung von den Banden des kleinlichen Egoismus, des streitsüchtigen Partikularismus, der inneren Zerrissenheit, durch die bei uns die edelsten Kräfte vergeudet werden - und lebhafter als je glüht in mir der Haß gegen Adel, Pfaffen und Duodezfürsten, denen wir diesen jämmerlichen politischen Zustand Deutschlands verdanken . . . Sind wir diese erst los, so wird sich gewiß auch bei uns ein großes, kräftiges, nationales Leben entwickeln, und gewiß werden wir dann die Franzosen auch in andern Dingen nicht nur erreichen, sondern auch überflügeln, da wir doch einen tiefen, gesunden, inneren Kern im Volke besitzen, der dem französischen fehlt: eine ernste, tiefe Sittlichkeit, ein volles, innerliches Gemüt, ein glückliches, reines Familienleben, ein kräftiges Streben nach Wesen und Kern der Sache . . .

Nun laß Dir die letzten 8 Tage nicht noch gar zu lang werden, meine liebste, beste Änni, lege Deinem ungeduldigen Streben und tiefen Sehnen noch auf eine kurze, letzte Woche Fesseln an uns sei im steten Gedenken an das nah bevorstehende Wiedersehensfest so innig glücklich und reich, wie ich es bin . . .

Dein Erni.


Brief 71 ..................................................




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Diese Seite wurde erstellt am 9. August 1999