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Italienfahrt - Ernst Haeckel

Zoologische Notizen über die Lebensweise und sonstige Eigentümlichkeiten des jetzt in Messina lebenden Exemplares von Homo sapiens causasicus Germanus naturalista migratorius organicus

Brief Nr. 59

Zoologische Notizen über die Lebensweise und sonstige Eigentümlichkeiten des jetzt in Messina lebenden Exemplares von Homo sapiens causasicus Germanus naturalista migratorius organicus. (Größtenteils nach den glaubwürdigen Angaben des Wärters, Dr. Eduard von Bartels aus Altona, und nach Notizen, die von verschiedenen deutschen Reisenden in Italien gesammelt wurden.)

1. Daß die vorliegende Bestimmung des Individui richtig sei, wird von den meisten versichert; nur ob es wirklich zu der Art Homo sapiens L. gehöre, wird von einigen bezweifelt, die dasselbe vielmehr für ein seltenes, lebengebliebenes Exemplar der von Scheuchzer als "Homo antediluvianus" beschriebenen, fabelhaften, fossilen Menschenart gelten lassen wollen.

2. Über die wirkliche Gemütsart desselben herrschen sehr verschiedene Ansichten, je nach dem Character der Beobachter. Die Italiener, besonders die sogenannten Gebildeten, verabscheuen ihn (wahrscheinlich weil er keine Glacéhandschuhe und Vatermörder trägt) als "Selvaggio" (d. h. Homo silvaticus - Waldmensch). Die Herren von der preußischen Gesandtschaft in Neapel und Rom, echt neupreußische Kreuzritter, der leider öfter ihr reines Junkerblut durch Gespräche mit ihm (wobei derbe Wahrheiten zutage kamen!) besudeln mußten, haßten ihn als einen "auf Ähre janz demokratisch-flejelhaften Plebejer, der nicht den mindesten Respekt vor staatlichem und kirchlichem Dogma und sonstigen Autoritäten hat, auch wohl gar mal ihrem Erbadel durch demagogische Wühlerei gefährlich werden könnte!" -

Die deutschen Kaufleute in Messina bewundern ihn dagegen größtenteils aus der Ferne als etwas Unverständliches! Dagegen sind die deutschen Künstler in Rom sehr für ihn eingenommen, mochten ihn sehr gern und waren bestrebt, einen Proselyten aus ihm zu machen. Endlich die echt norddeutschen und norwegischen Jünger der Wissenschaft und Kunst, die ihn als Studenten, Doktoren, Philologen usw. in Rom, Neapel, Capri, Palermo usw. trafen, behaupten, es sei ein gar lieber Naturmensch, der in mancher Hinsicht etwas typisch Deutsches habe.

3. Die Lebensweise des besagten Individui in Messina ist sehr eigentümlich und behauptet der Wärter (Dr. v. B.), der ihn mit großer Zärtlichkeit und Sorgfalt behandelt, noch nichts dergleichen gesehen zu haben. Namentlich soll derselbe an enthusiastischer Schwärmerei und leidenschaftlicher Vorliebe für die See und ihre Geschöpfe die frühere Wunter in Messina gesehenen ähnlichen Wandervögel bedeutend übertreffen (was ich übrigens nicht glauben kann. Anm. Anon.). Am frühesten Morgen schon, wenn eben der Tag anbricht, stürzt er sich in die See und schwimmt und taucht mit den Möven um die Wette, welche den schönen Hafen von Messina in großer Zahl bevölkern. Dann sieht man ihn eine Stunde lang in einer Barke im Hafen umherrudern und Millionen der außerordentlich schönen und interessanten pelagischen Tierchen, die hier stets auf der Oberfläche des Meeres tanzen, mittelst eines feinen Netzes wegfangen. Unsägliches Elend bringt auf diese Weise das grausame, blutdürstige Ungeheuer unter unzählige Familien wirbelloser Tiere, welche hier in schönster Harmonie sich ihres Lebens freuen. Manche verlassene Krebsbraut ringt vergeblich sich die Scheren wund und weint bittere Tränen über den weggefangenen Geliebten; mancher Tintenfisch seufzt um die geraubte Gattin und hüllt sich mittelst der Sepia seines Tintenbeutels in das dichteste Kleid tiefster, schwarzer Trauer! manche zarte Salpe jammert um den Verlust ihrer ihr ganz homogenen Großmutter und bedauert nun nur noch die ihr so unähnliche Mutter zu haben; zahlreiche Waisen aus der großen Würmerfamilie erwarten täglich vergebens die nie mehr zurückkehrenden Eltern! Mancher Seestern, Seeigel, Schlangenstern sieht seine schönste Hoffnung auf zahlreiche Nachkommenschaft vereitelt; vor allem sind aber die Scharen der radiären Rhizopoden, der reizenden, kieselgepanzerten Infusorien, zum bittersten Elend auserlesen. Tausende raubt täglich das verheerende Netz des Tedesco selvaggio, und nicht genug damit - den ganzen Tag über benutzt er alle Zeit und Kraft nur dazu, sie auf die grausamste Weise mittelst des Mikroskopes in das bessere Jenseits zu befördern, sie zu Tode zu gucken! Ist das nicht entsetzenserregend? Jedenfalls wird die Stellung des sonderbaren Raubtieres unter der Gattung "Homo" dadurch mehr als zweifelhaft! Was soll man aber weiter dazu sagen?


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Diese Seite wurde erstellt am 3. August 1999