. . . Das Neue Jahr 1860 begann in Messina mit einem überschönen Morgen; die schweren Wolken, welche in den wilden Sirokkostürmen der letzten 14 Tage die Gebirge verschleiert gehalten hatten, waren in der Silvesternacht verschwunden, und der Purpur des Morgenrotes strahlte von Kalabriens Bergen herüber, über denen die Sonne bald strahlend und klar emporstieg. Die Küste prangte in den herrlichsten Farben und der schärfst markierten Zeichnung. Dazu hatte der Hafen ein so festliches Aussehen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, zum erstenmal seit der sizilischen Reise Skizzenbuch und Pinsel hervorzuholen und wieder ein wenig im heitern Reich der Farben zu schwelgen. Doch wurde ich mit den Bergen über der Meerenge, die der Gipfel des schneeigen Montī aspro herrlich krönte, nicht fertig und machte nur eine kleine Skizze von dem grad vor meinem Fenster liegenden Dreimaster "Zephyr" aus Neuyork, welches das schönste Schiff der Welt zu sein behauptet und in der Tat mit den stolzen Reihen seiner bunten Flaggen, den schlanken, hohen Masten und dem schön geformten, zugleich zierlichen und kräftigen Rumpf ganz prächtig aussah. Um 12 Uhr mittags ging ich aus, zunächst nach dem Dom, dessen berühmten Basilikabau und zierliche Architektonik ich mir noch gar nicht ordentlich angesehen hatte. Doch fand ich die Kirche verschlossen, was ich mir als bedeutungsvolles Symbol für mein ganzes Leben auslegte . . .
Dann strich ich ein wenig in den festlich belebten Straßen der Stadt umher, von denen ich bisher so wenig gesehen habe. Weiter ging ich wieder an der Marina auf und ab, die im Glanz der heitern Sonne mit all den festlich gekleideten Seeleuten und den bunt bewimpelten und beflaggten Schiffen ganz prächtig aussah. Dazu feierten die deutschen, norwegischen und dänischen Schiffe das neue Jahr durch Böllerschüsse, was recht lustig klang. Der prächtige Hafen von Messina hatte mir noch kaum je einen so schönen, lebendigen Eindruck gemacht wie an diesem besonders belebten Neujahrsmorgen. Unter den zahlreichen Flaggen, mit denen die Schiffe aller Nationen, die dicht gedrängt an dem langen Kai liegen, bunt geschmückt waren, erblickte ich, am Ende des Portofranco angelangt, auf einmal auch den so lange nicht gesehenen preußischen Adler. Es war die schnellsegelnde "Lisette" aus Stettin, Kapitän Lahrs, welche vor zwei Tagen angekommen war und den Weg von London hierher in 18 Tagen zurückgelegt hatte. Ich kletterte sogleich hinauf; Kapitän und Steuerleute waren ausgegangen; auf dem Vorderteil sakßen sechs Matrosen zusammen, welche nicht wenig erstaunt waren, als ich ihnen ein "Prosit Neujahr, Landsleute!" zurief. Es waren alles Pommern, welche zum ersten Male hier waren, recht biederes, braves Volk. Wir kamen bald so lebhaft ins Plaudern, daß ich ein paar Stunden an Bord blieb. Ich ließ mir viel von England und Spanien erzählen, wo sie in verschiedenen Häfen angelegt und auch mehrere Tage an Land gewesen waren. Ich freute mich recht über die frischen, lebendigen Anschauungen, die diese einfachen Leute in den fremden Ländern recht klar und gut aufgenommen, und über das gesunde, richtige Urteil, das sie nach ihrer Art über Land und Leute fällten. Jedenfalls war mehr Verstand, natürliche Klarheit und offene Wahrheit darin als in den vielen verkehrten Urteilen, die ich auf der Reise von vielen Leuten unserer sogenannten hochgebildeten Klassen, namentlich des Adels, hatte anhören müssen. Diese Erfahrung bestätigte mich von neuem in meiner Ansicht, daß in unserem gemeinen deutschen Volke noch ein recht gesunder, entwicklungsfähiger Kern liegt, und daß nur von diesem, nicht von den blasierten und korrumpierten höheren Ständen, ein gesunder Umschwung unserer sozialen Verhältnisse zu hoffen ist . . .
Alle Morgen, wenn ich in meinem kleinen Boote dieses herrliche spiegelglatte Wasserbecken durchkreuze, freue ich mich von neuem über die so schöne Einrichtung der gütigen Mutter Natur, welche hier für ihre herrlichen, pelagischen Tiere ein Wasserbecken gewährt, das ihnen ein sicherer Schutz gegen alle Unbill des Sturms ist, und das sie, zur großen Freude des Naturforschers, zu Millionen täglich von neuem hereintreibt. Schon längst hatte ich bei diesen Hafenfahrten den Wunsch gehabt, auch einmal auf der ganzen Länge der Landzunge bis zum Fort Salvatore vorzuwandern, teils der eigentümlichen Flora wegen, die diesen niedern, schmalen Landstrich zu bedecken schien, teils wegen des schönen Überblickes, den man von da auf die Stadt und die sie umlagernden Gebirge genießt, und teils um das Innere der so gefürchteten Zitadelle kennenzulernen. Nun ist aber die letztere natürlich geschlossen und die Wache beauftragt, niemand ohne besondere Erlaubnis, die man schwer erhält, einzulassen. Schon mehrmals hatte ich versucht, durch das Landtor von der Stadt aus hineinzugelangen, war aber immer von der Wache zurückgewiesen worden. Heute nun beschloß ich, mein Glück nochmals zu versuchen, und zwar mittelst einer kleinen List, die vortrefflich gelang. Die neapolitanischen Soldaten (und diese allein, kein einziger Sizilianer, halten die ganze Insel unter Botmäßigkeit) haben gewaltigen Respekt vor den Engländern wegen ihrer Kriegsschiffe und weil sie 1812 die Insel lange besetzt hielten. Ein Engländer darf sich herausnehmen, was keinem anderen erlaubt ist. Auch haben sie leichter auf der Landzunge Zutritt, weil der englische Kirchhof dort hinter der Zitadelle gelegen ist. Ich beschloß also, mich als Engländer zu gerieren, was mir bei meinem angelsächsischen blonden Haar leichter gelang, zog mich sehr fein an, schwarzen Frack und Hut und stürmte nun gradewegs auf die Zitadelle los, durch deren Haupttor ich, ohne zu fragen, eintrat. Die Wache, die mich anrief, berücksichtigte ich nicht, und als sie mir eiligst nachlief und mich beim Kragen herauswerfen wollte, drehte ich mich mit einem kräftigen "Goddam" um und warf ihr, mit möglichster Verleugnung meines guten Italienisch, einige hier wohlbekannte englische Flüche an den Kopf, die auch ihre treffliche Wirkung nicht verfehlten. Die beabsichtigte Einschüchterung gelang vollkommen, und der edle neapolitanische Krieger, der ich mindestens für einen Lord hielt, ließ mich frei passieren. Sobald nun erst dieser erste Posten, der die Hauptpforte besetzt hielt, mittelst der kleinen Kriegslist glücklich passiert war, hatte ich gewonnen Spiel und wurde von keinem der folgenden mehr angerufen. Sie sahen mich zwar sehr verwundert an, wagten aber nichts zu sagen, da ich mit der größten Zuversicht mitten durch die einzelnen Tore hindurchschritt. Ich passierte nicht weniger als fünf kleine Forts, durch Gräben und Brücken getrennt und beiderseits vom Meer umspült, welche je einen weiten Hof hinter ihren Wällen einschlossen, ganz gefüllt mit mächtigen Bombenhaufen, Kanonen und anderem Kriegsmaterial. Außer den Soldaten waren nur arme, politische Gefangene sichtbar, die hier, in Ketten geschmiedet, schwere Bauarbeit verrichten mußten, weil sie für ihres Vaterlandes Freiheit und Größe gegen die Gewaltherrschaft der verhaßten Neapolitaner auszustehen gewagt hatten. Auf der Nordostseite der Zitadelle gelangte ich wieder ins Freie und wanderte nun auf der Landzunge hin, an dem englischen Kirchhof und verschiedenen Denkmalen der 1848-1850 hier gefallenen neapolitanischen Offiziere vorbei. Bei den letzteren standen Wachen, welche das Lesen der Inschriften verhinderten!
Der Blick auf den Hafen, Stadt und Gebirge, durch den ich nun belohnt wurde, war in der Tat sehr schön und lohnte das kleine Wagstück vollkommen. Die Palazzata, deren mächtige, lange Palastreihe wie ein einziger ungeheurer Häuserkranz den Kai umsäumt, nimmt sich sehr stattlich aus und bildet gleichsam das Piedestal zu dem Monument, dem gleich sich die stolze Stadt an die hinter ihrem Rücken aufgetürmte Hügelreihe sich anlehnt, auf deren zwei Spitzen die beiden, die Stadt von oben beherrschenden Forts Gonzaga und Castellaccio thronen. Darüber steigen dann die kühn gegipfelten Spitzen der höheren Gebirge der sizilianischen Nordostküste auf, die drei Tage vor Weihnachten mit Schnee bedeckt waren, untern ihnen der höchste, der Antennamare. Diese Berge haben sehr kühn und schön gezackte Gipfelkonturen, welche sich um so großartiger ausnehmen, da die Berge ganz nackt, ohne Wald und nur mit ganz niedrigem immergrünen Gesträuch bedeckt sind, wodurch die Illusion einer viel größeren Höhe hervorgerufen wird. Weiterhin sah ich mir den mächtigen, auf der Mitte der Landzunge gelegenen Leuchtturm an, gegenüber der Quarantäneanstalt (Contumazia) und wanderte dann bis zu dem Fort Salvatore, auf der nördlichsten, frei auslaufenden Spitze der Landzunge gelegen, wo ich meine Hände in die "heilige Salzflut" tauchte und Wellen und Winden tausend Grüße für meine liebe nordische Heimat auftrug.
Den Rückweg machte ich ebenso zuversichtlich und ungehindert wie den Hinweg und kam glücklich unangefochten wieder durch die streng bewachte Zitadelle hindurch. Das kleine Abenteuer hat mich und Dr. v. Bartels, der selbst noch nie die Zitadelle hat besuchen dürfen, sehr amüsiert. Von da lockte mich das schöne Wetter noch am späten Nachmittag nach S. Gregorio, einem sehr frei und hochgelegenen Nonnenkloster im hinteren, höchsten Teile der Stadt, von dessen freiem Vorhof mein einen prächtigen weiten Blick über Stadt, Hafen und Meerenge weithin genießt. Das Kloster ist umgeben von prächtigen Orangengärten, deren Fruchtbäume jetzt über und über mit dem Schmuck der goldenen Hesperidenäpfel beladen waren. Besondere Freude machten mir die kleinen Quellen, die ringsum aus den Felsen hervorrieseln, ein Genuß, den man in Neapel nirgends hat. Noch dazu waren sie jetzt ringsum mit dem frischesten Grün umkleidet. Auf dem Herabwege trat ich weiterhin noch in eine hell erleuchtete Kirche ein, in deren theatralisch bunt verzierten und illuminierten Hallen ich wieder ein Stückchen sizilischen Götzendienstes mit ansah, das mich von neuem mit lebhaftem Widerwillen gegen diese sogenannte christliche Religion erfüllte . . .